Im Dezember 1986 reisten U2 mit ihrem Haus- und Hoffotografen Anton Corbijn quer durch den Südwesten der USA, um ein Cover-Motiv für ihr inzwischen legendäres Album THE JOSHUA TREE zu finden. Das Album verkaufte sich weltweit über 20 Millionen Mal. Mit ihm wurden auch die Locations der Fotosession weltberühmt. Eine Spurensuche vor Ort mit traurigem Ergebnis.
"Ich weiß gar nicht mehr, wo wir den Joshua Tree gefunden haben", erinnert sich Bono in einem Interview. "Wir haben ihn einfach im Vorbeifahren am Straßenrand entdeckt. Anton Corbijn, unser Fotograf, war der erste, der ihn gesehen hat und er rief nur 'Stoppt den Bus!'." Corbijn war es auch, der am ersten Abend seiner Reise mit U2 im Dezember 1986 in die kalifornische Mojave Wüste die Idee zum Cover-Motiv hatte. Er stellte sich einen Joshua Tree im Vorder- mit der Band im Hintergrund vor und schilderte die Situation später in einem Interview: "Am nächsten Morgen kam Bono mit einer Bibel herunter und suchte die Stelle über Joshua und es bedeutete eine Menge für ihn. Er dachte, das könne der Titel des Albums werden." So kam es dann auch. U2s fünftes Studioalbum erschien unter dem Titel THE JOSHUA TREE im März 1987. Seitdem verkaufte es sich über 20 Millionen Mal.
Fast mehr als das Albums selbst, faszinierten mich stets Corbijns kontrastreichen und grobkörnigen Schwarzweiß-Fotografien. Für das Shooting hatte sich Corbijn eine Panoramakamera gemietet, um mehr von der Wüstenlandschaften einfangen zu können. Mangels Erfahrung mit dem Equipment konzentrierte er sich beim Fokussieren jedoch häufig zu stark auf den Hintergrund, und platzierte die Band immer wieder eher unfreiwillig im unscharfen Bereich davor. Ein im Nachhinein glücklicher Zufall, denn die Unvollkommenheit der Fotos verstärkt nur die Magie, die von ihnen ausgeht. Kurz vor dem 30-jährigen Jubiläum der LP fasste ich den Entschluss, mir die für mich längst ikonografisch gewordenen Locations dieser Fotosession einmal mit eigenen Augen anzusehen.
Fotogalerie
Von Los Angeles aus starte ich ins knapp zweieinhalb Stunden entfernte 29 Palms. Die kleine Wüstenstadt liegt an den Toren des Joshua Tree Nationalparks. Anders als oft irrtümlich angenommen, ist hier der berühmte Joshua Tree des Covershootings weit und breit nicht zu finden. Dafür aber das Harmony Motel. Ich checke wie dreißig Jahre vorher Corbijn und die Band ein. Am Highway kam es damals zum legendären Foto vor der Werbetafel des Motels, das später für Promotionzwecke und im Tourheft Verwendung finden sollte.
Heute wirbt das Harmony Motel wieder auf seiner Website mit seinen prominenten Gästen vor ihrem Schild. Das war nicht immer so. In den 90ern wurde das Original-Schild kurzerhand durch ein moderneres ersetzt, bevor man das Motel 2003 versteigerte. Der neuen Besitzerin Ash Maharaj wurde schnell bewusst, welches Potential dieses Foto heute noch birgt: "U2 is the reference we hear the most," erzählt sie mir, als wir auf er staubigen Auffahrt stehen. "Travelers from all over come here to stay where the band had their photo taken prior to the release of the Joshua Tree album."
Sie kramte sie das Original-Schild wieder hervor, ließ es restaurieren und montierte es am 17. Februar 2011 an alter Stelle. Mehrmals die Woche halten Leute in der Einfahrt, um Fotos zu schießen und auch U2 verwenden das Foto nach wie vor in Videoinstallationen ihrer Liveshows. "Just last week", berichtet Ash, "a young couple from Australia booked their stay at the Harmony Motel just minutes after seeing the photo flash on the big screen at a sold-out U2 concert."
Ich fahre weiter Richtung Norden und erreiche nach vier Stunden das Death Valley. Anders als U2 und Corbijn bin ich nicht im Dezember sondern im August unterwegs. Eine schweißtreibende Angelegenheit. Sobald ich das klimatisierte Auto verlasse, muss ich mich mit 47 °C Außentemperatur herumschlagen. Doch die Strapazen lohnen sich. Der unwirkliche Ausblick am Zabriskie Point über die bizarre Erosionslandschaft rund um den prähistorischen Lake Manly ist überwältigend. Die Gesteinsformationen, auf die man von diesem Punkt hinunterblickt, sind die Sedimente des ehemaligen Furnace Creek, der vor fünf Millionen Jahren austrocknete. Etwas unterhalb des Aussichtspunktes entstand das Coverfoto von THE JOSHUA TREE. Ein längerer Aufenthalt im Freien ist bei den Temperaturen nicht ganz ungefährlich, also fahre ich weiter.
Vom Highway 190 aus halte ich mich Richtung Norden und erreiche nach 250 Meilen den Abzweig nach Bodie. Eine schlecht ausgebaute Schotterpiste führt weitere 15 Meilen zu den Überresten der ehemaligen Boomtown, die mit 65 Saloons und einem Dutzend Bordellen zur Zeit des kalifornischen Goldrauschs um 1880 zu den berüchtigsten Städten des Wilden Westens gehörte.
Heute ist Bodie die besterhaltenste Geisterstadt der USA und legt beeindruckend Zeugnis darüber ab, was man sonst nur aus Western kennt. In den Sommermonaten wird der Ort inzwischen immer stärker von Touristen frequentiert und als State Park vom kalifornischen Staat verwaltet. Beim Besuch von U2 und Corbijn, die hier ihr dreitägiges Shooting begannen, sah das vermutlich noch anders aus. Schon alleine aufgrund der Witterung dürfte sie hier wenige Schaulustige angetroffen haben. Die Zufahrt ist in den Wintermonaten für den normalen Verkehr kaum befahrbar.
Ich stapfe durch die surrealen Überbleibsel dieser Stadt und halte Ausschau nach den Gebäuden, die auf Corbijns Fotos zu erkennen sind. Fasziniert halte ich aber zwischendurch immer wieder inne und schaue durch die Fenster der fragilen Gebäude. Viele der Einrichtungsgegenstände stehen noch so da, als seien die ehemaligen Bewohner gerade erst aufgebrochen: Teller auf den Tischen, Billardtische im Saloon, in der Schule steht noch ein aufgequollener Globus neben der Tafel und auf dem kleinen Friedhof vor der Stadt bröckeln die Grabsteine ehemaliger Bewohner vor sich hin. Die Zapfsäulen einer alten Tankstelle sind ebenso noch vorhanden wie ein paar rostende Autowracks aus den 1920er Jahren. Da war die Stadt bereits fast verlassen.
In Bodie lebten während der Blütezeit 10.000 Menschen. Es gab ein Chinesenviertel mit einem taoistischen Tempel und einer Opiumhöhle, eine Eisenbahn, mehrere Zeitungen, sieben Brauereien und Kirchen verschiedener Religionen. Morde, Überfälle und Postkutschenraub waren an der Tagesordnung. Nach dem schnellen Aufstieg folgte der abrupte Abstieg, als die Goldpreise fielen und die Mienen nicht mehr genug Profit abwarfen. Um die Jahrhundertwende sank die Einwohnerzahl unter 1000 und einige Großbrände zerstörten fast 95 % des Stadtgebiets. Geblieben sind dennoch etwa 170 Gebäude in teils verblüffend gutem Zustand.
Schließlich werde ich fündig. Eins der alten Autowracks, das im nassen Gras vor sich hin rostet, kommt mir bekannt vor und ein zweiter Blick bestätigt meine Vermutung. Unverkennbar, hier posierten Bono, The Edge, Larry Mullen und Adam Clayton für Anton Corbijn. Die morbide Kulisse bot Corbijn perfekte Bedingungen. Auch andere Locations des Shootings liegen unweit von der ehemaligen Main Street.
Ein weiteres Foto entstand unter dem löchrigen Vordach des einstigen Wheaton and Hollis Hotel, das mir zumindest ein wenig Deckung vor einem Wolkenbruch bietet, der plötzlich über mir herein bricht. Auch das windschiefe Swayze Hotel erkenne ich sofort wieder. Selbst die Überreste eines Kutschengespanns liegen nach dreißig Jahren noch unverändert im Gras. Das trocken-kalte Klima verlangsamt den Verfall. Die meisten Fotos, die Corbijn hier machte, landeten später im Tourheft und auf Booklets verschiedener Special Editions.
Auf dem Rückweg halte ich noch mal am Highway 190 in der Nähe vor Darwin. Natürlich will ich auch den titelgebenden Joshua Tree aufsuchen. Auch wenn er letztendlich nicht auf dem Frontcover landete, wurde er mit dem Album weltbekannt. Fotos von ihm mit der Band wurden auf dem Backcover, sowie großformatig als Artwork des Foldoutcovers der LP-Innenseite verwendet. Als Corbijn und die Band hier im Dezember 1986 mit ihrem Bus hielten, herrschten winterliche Temperaturen. "Es war eiskalt und wir mussten unsere Mäntel ausziehen, damit es überhaupt nach einer Wüste aussah", erinnerte sich Bono später. "Das ist wohl einer der Gründe, warum wir so grimmig aussehen."
Weder die Band noch Corbijn verrieten je den genauen Standpunkt des Baumes. Hätten nicht ein paar umtriebige U2-Fans selbst irgendwann den Baum aufgespürt, wäre ich vermutlich nie auf die Idee gekommen, ihn ausgerechnet hier zu suchen: Ungefähr 250 Meilen entfernt vom Joshua Tree Nationalpark. Während die Pflanzen im Nationalpark selbst nur in Gruppen vorkommen, fand man hier den außergewöhnlich allein stehenden Baum, so wie es sich Corbijn vorgestellt hatte.
Aber auch die genauen Koordinaten helfen mir letztendlich nicht weiter. Ich komme zu spät. Vermutlich war der Baum der letzte einer größeren Kolonie und zum Zeitpunkt des Shootings bereits ca. 200 Jahre alt. Wer heute noch aufbricht, um die Locations dieser großartigen Fotosession zu besuchen, wird im Falle des Joshua Trees eine traurige Entdeckung machen.
An seiner Position sind heute nur noch vereinzelt seine Überreste zu finden. Bereits im Jahr 2000 starb er aufgrund seines hohen Alters und seiner Größe ab und fiel um. Dennoch pilgern immer noch Fans hier her. Ich finde eine Gedenktafel mit der Abbildung des Baumes. In Anlehnung an den Song "I Still Haven't Found What I'm Looking For" steht darunter der Schriftzug "Have you found what you are looking for?". Sie erinnert ebenso an seine Existenz wie ein hinterlassenes Logbuch und zahlreiche Erinnerungsstücke, die Fans hier hinterlassen haben. Am Ende bleibt meine eindrücklichen Spurensuche in den einsamen Weiten des amerikanischen Westens damit bedauerlicherweise unvollendet.
Mit freundlicher Unterstützung von Uli, Fotos: Ash Maharaj (Harmony Motel), Joho345 (Joshua Tree 90er), alle übrigen Fotos, wenn nicht anders gekennzeichnet, von Christian Düringer