1984 veröffentlichte das Trio Odermennig aus Marburg und Gönnern unter dem Titel "Gemorje Hinnerlaand" ihre erste und einzige LP. Sozialkritische, poetische und derb-komische Texte in mittelhessischer Mundart kombiniert mit Tönen aus Jazz und Blues konterkarierten seinerzeit die angestaubte Heimatdichtung in Hessen mit ungewöhnlichen Ausdrucksformen. Ein einzigartiges Projekt fernab biederer Volkstümelei, das nach Rücksprache mit den Künstlern nun erstmals exklusiv auf dieser Seite in digitaler Form wiederveröffentlicht wird.
"Odermennig – ein Pflänzchen ganz besonderer Art" titelte der "Hinterländer Anzeiger" in einer Ausgabe Ende 1983 und meinte damit nicht das gleichnamige Ackerkraut selbst, sondern ein nach ihm
benanntes Trio aus Marburg und Gönnern. Vierzig Jahre später ist jenes Pflänzchen noch exotischer als damals, denn Odermennig machten etwas, was vor ihnen keiner gewagt hatte und seitdem niemand
wiederholt hat. Auf ihrer ersten und einzigen im Februar 1984 veröffentlichten LP "Gemorje Hinnerlaand" präsentieren Kurt Sänger, Lutz Götzfreid und Reiner Lenz Lieder, Lyrik, Burlesken in
mittelhessischer Mundart, dem Hinterländer Platt, verzahnt mit zeitgenössischen angloamerikanischen Musikeinflüssen. War es schon damals anachronistisch, sich auf diese Weise der regional auf den
alten Kreis Biedenkopf beschränkten Sprache der Eltern- und Großelterngeneration für den eigenen künstlerischen Ausdruck zu bedienen, erscheint es aus heutiger Sicht eine einmalige Gelegenheit,
diesem eigentümlichem Dialekt in einem künstlerisch-musikalischen Kontext zu begegnen.
Bevor man die LP auflegt, stimmt zunächst das phantastisch-surreale Foldoutcover-Artwork von Grafiker und Illustrator Wolfgang Rudelius auf die scheinbar außerirdische Abgeschiedenheit des
Hinterlands und seine kauzigen Bewohner ein. Vor der weitläufigen, in schwarz-weiß gehaltenen, Kulisse eines Wiesengrundes blickt den Betrachter ein kleiner Junge, ohne Schuhe, mit
verschiedenfarbigen Socken und Latzhose frech aber liebenswert an. Einen geschnitzten Wanderstock in der einen, einen Korb mit frisch gepflückten Blumen in der anderen Hand. Im Hintergrund
spaziert vergnügt die Band über heimische Wiesen, daneben grasen friedlich Kühe auf der Weide. Am Horizont prangt entlegen nicht der Mond am Himmel, sondern die Erde. Eindrücklicher könnte man
das Hinterland kaum karikieren und die Stimmung von "Gemorje Hinnerlaand" andeuten.
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"Radio Weckmaschine" eröffnet das Album. Lutz Götzfried besingt darin eine neuen technische Errungenschaft, einem Radiowecker, der ihm den grauen Arbeitsalltag versüßt. Das anschließende impressionistische "Toiblingswald " ist eine von Kurt Sänger träumerisch im Sprechgesang vorgetragene Ode an die heimatliche Natur mit sozialkritischen Untertönen, dezent begleitet von Reiner Lenz auf der Akustikgitarre und Mundharmonika. Bereits zu Beginn offenbart sich eine Aufgliederung, die über weite Strecken des Albums aufrecht erhalten bleibt. Götzfrieds augenzwinkernde, teils derb-komischen Burlesken bilden den Gegenpol zu Kurt Sängers sanft-poetischen Songentwürfen und den von Lenz arrangierten nachdenklichen Gedichtsvorträgen, die nur sparsam und gezielt Ironisches einflechten. Gemeinsamkeiten sind immer dann erkennbar, wenn kritische Auseinandersetzungen mit heiklen Themen wie Umweltproblemen ("Spätsummer") oder Fremdenfeindlichkeit ("Elsje") anstehen. Heile Dorfidylle wird von keinem der beiden zelebriert. Zu den jeweiligen Höhepunkten gehören Götzfrieds "Hannes" und Sängers "Enscheirunge". "Hannes" erzählt die Geschichte des Ockershäusers Konrad und seinem störrischen Ochsen Hannes während "Entscheirunge" einen gewitzten Dialog von Henner und Ludwich widergibt:
Henner: Wann´s raant, gieh ma heem (Wenn es regnet, gehen wir heim)
Ludwich: Wann´s nit raant, blaiwe ma häi (Wenn es nicht regnet, bleiben wir hier)
Henner: Raants nit un ma hu ke Lost, gieh ma aach heem (Regnet es nicht und wir haben keine Lust, gehen wir auch heim)
Raants, breache ma suwisu nit ze blaiwe (Regnet es, brauchen wir sowieso nicht zu bleiben)
Ludwich: Gieh ma da heem un wesse nit, woas ma da mache sinn (Gehen wir dann heim und wissen nicht, was wir dann machen sollen)
Kinnte ma jo aach glaisch häiblaiwe (Könnten wir ja auch gleich hierbleiben)
Henner: Feräasgesast es raant nit" (Vorausgesetzt es regnet nicht)
Im Gesamteindruck stehen die Texte bei Odermennig zwar im Fokus, die musikalische Vielfalt, die Feinheit der Instrumentierung spielt dennoch ebenfalls eine große Rolle. Clever kontrastieren die
Arrangements die Tradition der Sprache und verhindern so auch musikalisch jegliche Nähe zur biedereren Volkstümelei. Neben konventionellen Begleitinstrumenten wie Klavier und Akustikgitarren
sorgen Zither, Alt-Saxophon, Flöten, Trommel und Klarinette für das einprägsame Klangbild von "Gemorje Hinnerlaand" und lassen subtile Einflüsse aus Folk, Jazz und Chanson erkennen. Das
Querflöten-Intro von Gastmusiker Wolfgang Schmidt auf einer von Götzfrieds Balladen "Weltunergang (Lisbeth)", dem vielleicht schönsten Lied des Albums, weckt Assoziationen zu Jethro Tull und die
virtuosen Mundharmonika-Soli von Reiner Lenz bei "Wandgetrappel" und dem Psychedelic-Trip "‘s letzte Delirium (woar besofe)" deuten bereits auf dessen späteres Engagement in verschiedenen
Blues-Combos hin.
Dass aus dem ursprünglichen "Dorfexperiment" mehr wurde, ist nicht zuletzt auch dem in Gießen geborenen Schauspieler, Sprecher, Autor und Regiesseur Alwin Michael Rueffer zu verdanken. "Erst mit ihm wurde das Projekt ins literarische Leben gehoben", erinnert sich Kurt Sänger heute rückblickend. Die Produktion von "Gemorje Hinnerlaand" mit ihren umfangreichen Textarbeiten sollte eine seiner letzten Studioarbeiten werden. Der zuletzt an den Städtischen Bühnen in Frankfurt arbeitende und beheimatete Rueffer verstarb 1986 infolge eines Schlaganfalls. Finanziell wurde das Projekt seinerzeit vom Hessischen Sparkassen- und Giroverband und der Arbeitsstelle "Sprache in Hessen" im Forschungsinstitut für Deutsche Sprache an der Philipps-Universität Marburg gefördert.
Leider lösten sich Odermennig bereits kurz nach der Entstehung von "Gemorje Hinnerlaand" in dieser Besetzung wieder auf. Womöglich waren die unterschiedlichen künstlerischen Ansätze von Götzfried
und Sänger längerfristig doch nicht zu vereinen. Umso erfreulicher, dass ihnen in ihrer kurzen gemeinsamen Phase diese LP gelungen ist und sie der Nachwelt damit erhalten blieben. Sänger führte
die Band bis zu ihrem endgültigen Aus 1990 noch mit Jürgen Krebber (Gitarre) und Michael Neuner (Cello) fort, ohne dass es zu weiteren Veröffentlichungen kam. Anschließend konzentrierte sich
Sänger auf das Schreiben, hielt Lesungen und wurde journalistisch tätig. Reiner Lenz spielt inzwischen bei der Darmstädter Band Blues Papas und Lutz Götzfried hat heute die kulturelle Leitung am Marburger Spiegelslustturm.
Die LP war mit ihrer limitierten Auflage seinerzeit schnell vergriffen. Eine Neuauflage, und sei es nur auf CD, hat es bisher nie gegeben.
Der folgende Download ist somit die erste Wiederveröffentlichung. Er ersetzt nicht das beeindruckende Layout der LP, ermöglicht aber immerhin nach langer Zeit das musikalische Wiederhören. Mit
freundlicher Genehmigung und Unterstützung von Kurt W. Sänger und Reiner Lenz. Alle Rechte verbleiben bei den Künstlern.
Zum Jubiläum im Februar 2024 hat Reiner Lenz uns einen neuen Song von ihm zur Verfügung gestellt. "Freacheheuser Jiggejeagge" ist ebenfalls in Mundart verfasst und als Download abrufbar. Zu den Hintergründen erklärt uns Lenz: "In Mittelhessen, Dialekt sprechend auf dem Land aufgewachsen, gehörte es dazu, sich mittels Spitznamen von den Nachbarorten zu unterscheiden. So nannte man z.B. die Bewohner des Nachbardorfes Frechenhausen 'Freachehäuser Jiggejeagge' (Frechenhäuser Jickejacken). Der dazugehörige Reim dient als Text des Songs. Eine lautmalerische Verballhornung in fast Da-Da-esker Form."